Da stehe ich nun und weiß immer noch nicht, welche Scheibe ich nehmen soll. Für das Visier meines Zeitfahrhelms. Die coole verspiegelte oder die klare? Im nächsten Moment weiß ich es: die klare Scheibe natürlich, um dieses echte, unbeschreibliche Licht der Mitternachtssonne ungetönt und ungefiltert sehen zu können. Dieses Licht, dessentwegen wir hier sind, am Strandbad Sandviken in Gällivare, um Mitternacht, zum Start des Laponia Triathlon 2022.
Vielleicht muss ich ein bisschen zurück in der Zeit gehen
und das erklären: Ich bin Triathlet. Und wir, die ganze Familie, wir lieben den
Norden. Nicht sonderlich überraschend also, dass ich schon meinen ersten
Versuch auf der Langdistanz (3,8km Schwimmen, 180km Rad und ein Marathon) in Schweden
unternommen habe. In Kalmar war das, beim „Järnmannen“, damals noch ein kleines
Rennen mit unter 200 Startern, vor der Zeit unter dem offiziellen
„Ironman“-Label. Seitdem habe ich die Distanz fünfzehnmal absolviert, davon elfmal
in Skandinavien. Es war dann wohl eine
besondere Fügung, dass ich auf den Norseman Xtreme Triathlon in Norwegen
aufmerksam wurde und mich sofort angemeldet habe. Dieses Rennen hat ein neues
Level definiert: Extremtriathlon, kurz Xtri. Der Norseman war der Urknall
dieser Entwicklung. Man springt weit draußen im Hardangerfjord früh morgens von
einer Autofähre in schwarze Wasser, um in die Kleinstadt Eidfjord zu schwimmen.
Dann fährt man mit dem Rad über die Hardangervidda, um dann einen Marathon zurückzulegen,
der auf den 1.800m hohen Gaustatoppen führt.
Big Five: Die fünf Nördlichsten
Irgendwann fiel mir auf, dass die Wettkämpfe, die mich
interessieren, alle in Skandinavien stattfanden. Schon war die nächste Idee
geboren: die fünf nördlichsten Langdistanz-Triathlons der Erde zu absolvieren.
Vier davon hatte ich schon, das heißt, genau genommen, hatten wir schon, denn
bei dieser Art Triathlon braucht man oft eine Supportcrew, so war fast immer
die ganze Familie unterwegs. Angefangen hatte es ja mit besagtem Norseman
(mittlerweile waren wir dreimal dort), dann kam der wunderbare, aber
mittlerweile eingestellte Oppland Xtreme über die Valdresflya in Norwegen. Dann
noch der Swedeman im jämtländischen Åre und, am allernördlichsten Ende der
Liste, der Lofoten Triathlon in Svolvaer. 2019 wollte ich mir einen weiteren
Traum erfüllen und mit dem Laponia Triathlon im schwedischen Gällivare das
Projekt abschließen. Um es kurz zu machen: ja, ich habe ihn absolviert,
allerdings wurde wegen katastrophalem Wetter (2°, Dauerregen und Nebel) die
Strecke verkürzt. Klar, dass ich für die volle Distanz noch einmal wiederkommen
musste.
Der Kleinste unter den Großen
Zurück an den Strand von Sandviken, am Vassaaraträsk in
Gällivare. Mittlerweile stehen alle 29 Starter, in ihre Neoprenanzüge
gequetscht, hinter der Startlinie aufgereiht und warten darauf, dass
Renndirektor Robert Johannsson das Startsignal gibt. Das winzige Teilnehmerfeld
ist ein weiterer Grund, warum ich diese Art Wettkampf so liebe, und diesen hier
ganz besonders. Ich habe die Riesenevents mit über 2000 Athleten schon lange
hinter mir gelassen, mir gefällt die Entspanntheit dieser kleinen Rennen, auch
wenn das heißt, dass man im Laufe des Tages vielleicht nur 3 oder 4 Mitstreiter
da draußen trifft.
Die größte Besonderheit am Laponia Triathlon ist aber
zweifellos die Startzeit. Pünktlich um Mitternacht drückt Robert auf den
Auslöser der Pressluftfanfare und gibt den Start frei. Dieses Rennen geht durch
die Nacht, eine Nacht ohne Finsternis, im unvergleichlichen Licht der
Mitternachtssonne. Wer das durch eine verspiegelte Scheibe ansehen will, dem
ist nicht zu helfen.
Mitternachtsschwimmen
Es geht also los. Wir waten ins Wasser, mit 16° doch
ausreichend angenehm. Der See ist spiegelglatt, die Orientierung, im Freiwasser
immer so eine Sache, ist kinderleicht. Die Sonne lässt den Dundret, Gällivares
Hausberg, der im Laufe des Tages noch eine große Rolle spielen soll, rot
leuchten. Es ist fast ein Postkartenidyll, das wir durchqueren. Die
Schwimmstrecke besteht aus einem gut 1,3km langen Dreieckskurs, der dreimal zu
durchschwimmen ist. Beim kurzen Landgang dazwischen sehe ich die Athleten vor
und hinter mir, man klatscht kurz ab oder zeigt ein „Daumen hoch“, irgendeine
kleine Anfeuerung gibt es von jedem. Das ist übrigens eine weitere Besonderheit
dieser kleinen Gemeinschaft, auch später auf dem Rad oder beim Laufen. Wann
immer man sich begegnet grüßt man sich, ruft einmal mindesten kurz „heja“ oder
winkt dem anderen, soviel Respekt zollt auch der Führende dem Letzten. Abgehobene
VIPs gibt es hier nicht.
Auf der Radstrecke nachts um halb zwei
Anderthalb Stunden später sitze ich im Wechselzelt und
zwänge mich mühsam in meine Radkleidung. Gar nicht so einfach, nass wie man
ist. Schließlich habe ich es geschafft, schnappe mir mein Rad und rolle los.
Der erste Teil der Radstrecke führt nach Norden, an der gewaltigen Mine von
Malmberget vorbei, über einen 8km langen Anstieg zum Wendepunkt in Tjautjas.
Die Straße ist so gut wie menschenleer, das Licht ist unwirklich. Fast möchte
ich anhalten und nur schauen und fotografieren, aber ich habe es ja ein
bisschen eilig. Inzwischen ist es mächtig kalt geworden, nur noch 5°. Ich freue
mich auf den Wendepunkt und mein allerliebstes Straßenschild. „Här slutar
allmän väg“ steht darauf. Die Straße endet hier. Danach kommt nur noch Wildnis.
Wir wenden aber und rasen den Berg wieder herunter, zurück nach Gällivare und
weiter nach Nattavaara, etwa 55km südlich. Hier wartet der nächste
Sehnsuchtsort: die Verpflegungsstation bei 131km, wo es tatsächlich heißen
Kaffee gibt!
Das macht alles anders. Die Kälte ist vergessen, der
Rhythmus passt, die nächste kurze, aber heftige Steigung hinauf nach Nattavaara
By ist wie im Flug erklommen. Für ein wenig Kurzweil sorgen dann doch die zwei
Wendepunkte der Radstrecke, hier treffe ich die Athleten, die weit vor oder
hinter mir liegen. Es ist spannend zu sehen, wie sich an der Spitze ein Duell
entwickelt. Der unglaublich schnelle Lokalmatador Pontus Suorra liefert sich
trotz der enormen Renndauer ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Joonas Lämsä aus Luleå. Bei den
Frauen führt unangefochten Denise Kottwitz aus Spremberg, die mir nach der
Wettkampfbesprechung am Tag vorher erzählt hat, dass sie nur wegen eines
Rennberichts, den ich 2019 geschrieben hatte, hier gestartet ist. Soviel sei
schon verraten: Denise ist am frühen Nachmittag nach gut 14 Stunden als erste
Frau ins Ziel gekommen.
Von solchen Zeiten und Erfolgen bin ich dann doch weit entfernt.
Mittlerweile, nach mehreren Stunden Renndauer und gut 150 km auf dem Rad,
schmerzen Füße, Schultern und Rücken. Das ist nicht bedrohlich, aber
unangenehm. Als Langdistanzler kennt man diesen Zustand und unterscheidet nach
einem Zitat, dass ich bei Hakuri Murakami gelesen habe: Schmerzen sind unvermeidlich, Leiden ist
optional. Alles halb so schlimm, die Landschaft und die fast unwirkliche
Stimmung in dieser Sommernacht entschädigen für Vieles. Trotzdem bin ich
heilfroh, als ich schließlich die Wechselzone am See wieder erreiche.
Der zweite Wechsel geht deutlich schneller, noch vor 9:00 Uhr
verlasse ich das Umkleidezelt und laufe los. Langsam und schwerfällig komme ich
mir vor, aber immerhin laufe ich. Nach einer hartnäckigen Wadenverletzung in
den letzten Trainingswochen war das nicht unbedingt zu erwarten, ich hatte mir
allerhand Sorgen gemacht, ob das Vorhaben überhaupt gelingen würde. Ich mache
einen Deal mit mir selbst aus: an Steigungen und technischen Passagen gehe ich,
alle ungefährlich erscheinenden Streckenabschnitte laufe ich. Das funktioniert
einigermaßen, wenn man davon absieht, dass die Strecke sehr anspruchsvoll ist
und die schnellen Abschnitte deutlich in der Unterzahl. Aber ich will in erster
Linie einmal überhaupt ankommen, das Zeitlimit von 18 Stunden einhalten.
Wandertag am Dundret
Nach 5 km verlässt der Kurs die Straße und biegt in den Wald ein. Hier schon kommt mir Pontus Suorra entgegen. Er hat am Aufstieg zum Dundret seinen Verfolger abgeschüttelt und einen 15-minütigen Vorsprung herausgelaufen. Als wir uns begegnen, streckt er fröhlich die Hand aus, wir klatschen ab, rufen einen kurzen Gruß und schon ist er wieder verschwunden, um weniger als eine halbe Stunde später als Sieger durchs Ziel zu laufen.
Ich trotte weiter. Es ist warm geworden, fast heiß für
lappländische Verhältnisse, es wimmelt von Mücken hier im Wald. Nicht von
ungefähr ist einer der Eventsponsoren in Hersteller von Mückenspray. Jeder
Teilnehmer hat ein kleines Fläschchen erhalten. Ich nehme mir vor, den Spender
fortan in mein Nachtgebet einzuschließen.
So weit und einsam die Radstrecke war, so abwechslungsreich ist der Lauf. Ein Teil führt auf dem historischen Rallarstigen über Stock, Stein, Bäche und Wurzeln, der letzte und spektakulärste Abschnitt hinauf zum Dundret und wieder hinunter.
Das ist bei den Temperaturen ein ganz ordentlicher Kraftakt, auf etwa 5 km geht es 440 Höhenmeter hinauf. Oben gibt es Kaffee und eine unfassbare Aussicht bis zur Kebnekaise im Norden. Ich nehme mit Zeit für ein paar Fotos und mache mich auf die letzten 13 km. Die werden jetzt wirklich mühsam, die Füße schmerzen heftig, ich komme kaum noch voran und muss die meiste Zeit gehen. Trotzdem begegne ich noch Teilnehmern, die hinter mir sind. Ich denke an die unermüdlichen Helfer, die an 5 Verpflegungsstationen und mehreren Wegposten uns ihren Samstag (und die Nacht) opfern, nur damit wir so einen Unfug treiben können wie einen Langdistanztriathlon mitten in Lappland. Man kann das gar nicht genug würdigen. Hinter diesem Wettkampf steht keine Agentur, keine Firma sondern nur der Gällivare Endurance Club, ein lokaler Sportverein, der dieses Event aus eigenen Mitteln und mit der Hilfe einiger Sponsoren sozusagen mit eigenen Händen umsetzt. Das allein gibt ihm schon einen ganz besonderen Stellenwert in meinem Wertesystem der sympathischen Veranstaltungen. Überhaupt halte ich die Idee und den Willen, einen Triathlonverein nördlich des Polarkreises ins Leben zu rufen, für den Inbegriff unerschütterlicher Zuversicht. Auf den letzten Kilometern beginne ich, den Streckenposten zurück zu applaudieren, wenn sie aufmunternd in die Hände klatschen und „heja, heja“ rufen. Sie sitzen teils seit Stunden mutterseelenallein im Wald und warten darauf, 26 Triathleten, die über Stunden verteilt den Weg entlangkommen, die Richtung zu weisen.
Und dann, nach fast fünfzehneinhalb Stunden, ist sie plötzlich da,
die Magie des letzten Kilometers. Alles ist vergessen, als wäre nichts gewesen,
falle ich in lockeren Laufschritt, und biege fröhlich und endlos erleichtert,
es wieder einmal geschafft zu haben, auf den Holzsteg am Strandbad ein, der
heute Zielkanal eines Langdistanztriathlons war. 15:38:05h sind es geworden,
mehr als deutlich unter 18 Stunden. Als ich das Minuten später endlich glauben
kann, bin ich dann sehr zufrieden mit mir und attestiere mir großzügig selber,
dass es kaum besser hätte laufen können.
Geschafft. Wieder mal.
Auch hier im Ziel sind die Mühen der Helfer unglaublich. Ich werde
verpflegt und umsorgt, wie ich es kaum je erlebt habe. Müde, satt und zufrieden
suche ich meine Sachen zusammen und mache mich auf, Robert, den Renndirektor,
zu suchen, um ihm noch an Ort und Stelle einen Aufnahmeantrag in den Gällivare
Endurance Club zu stellen.